Die Nächte von Vilnius

   

Von Minsk fahre ich nach Vilnius. Ich schlafe im Bus, wie ich es meistens tue. Wenn ich die Augen aufmache und aus dem Fenster sehe, sehe ich Lupinen. Kurz vor der Grenze setzt sich ein Mann mit roten Augen zu mir. Er schnauft und hustet. Mein abweisendes Benehmen hindert ihn nicht, freundlich mit mir Konversation zu betreiben mit seiner schweren Zunge und mir zur Passkontrolle aus dem Bus zu helfen.
Litauen beginnt an seiner weißrussischen Grenze mit einem Cappuccinoautomaten. Mein Nachbar bemerkt, dass der Geruch mir gefällt und kauft mir einen Kaffee. Er erklärt mir, wie er sich einen reisenden Künstler vorstellt: Der Künstler macht die Augen weit auf, erinnert sich an alles und malt aus der Erinnerung ein großes Bild. Wenn er nur nicht so eine Fahne hätte, der Nachbar.

Für den, der von Minsk kommt, sieht in Vilnius alles wie in Deutschland aus. Die Minsker Mode der kurzen Röcke, langen Haare und hohen Schuhe weicht dem sportlichen Stil. Meistens regnet es in Strömen. Ich verbringe meine Zeit in bester


 

Gesellschaft in der schönen Bar des Contemporary Art Center, oder ich gehe in bester Gesellschaft aus. „Lass uns zum Café de Paris gehen“, schlägt Ula am Abend vor. Ula ist eine der Kuratorinnen des CAC. Vor dem Café de Paris wird entschieden, doch besser ins Cosy zu gehen. „So ist es jedes mal“, sagt Valentinas.„Erst schlägt Ula vor, ins Café de Paris zu gehen, und dann gehen wir ins Cosy.“ Zum Bier wird gebratenes Knoblauchbrot gegessen, was ich für eine gute Sache halte.
Die Kuratoren und Kuratorinnen sind sehr jung.

An einem späten Abend landen wir im Café der Schriftstellerunion. Ula klingelt an einer unauffälligen Tür. Das Treppenhaus ist herrschaftlich. An den gelben Wänden hängen Gedichte. Die Schriftsteller sind betrunken. An unseren Tisch setzt sich ein Mann, der Apfelsaft mit Weinbrand trinkt. „Es ist alles leer“, sagt er, und :„Es ist alles nicht so einfach.“



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Holz, Möbel, Forsten
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Litauen in Leipzig

   

Vor allem sei Litauen grün, sagt eine Studentin, die ich am Sonntagmorgen um sechs auf ihrem Weg zu einem Gebrauchtwagenmarkt begleite, wo sie Werbung für Voll- und Teilkaskoversicherungen machen soll. „Es ist grün und hat eine Form, die Wachstum zeigt.“ Ihre Kollegin Gintare wünscht sich eine Karte, die Litauen als eines der EU-Länder zeigt, „Darauf sind wir stolz und wollen, dass alle es wissen und uns entsprechend behandeln.“

Ein großes Schwarzbrot wird für eine weitere wichtige Gabe gehalten. Ihre Oma esse schwarzes Brot zu allem, sagt Rasa, und jeden Tag wieder frage ihre Oma sie, warum sie, Rasa, kein schwarzes Brot esse, wobei sie sehr wohl schwarzes Brot esse, nur nicht zu allem und zu jeder Mahlzeit.

Pläne zur Stadtentwicklung von Vilnius werden mir gegeben und eine offizielle CD, mit der die Stadtverwaltung auf einer großen Messe für Real Estate in Nizza Investoren gewinnen will. Erst vor kurzem sei ein schönes sowjetisches Schwimmbad abgerissen worden, sagt Ula. Es gäbe auch Pläne, den Sportpalast abzureißen, einen mächtigen Bau mit einer Wandgestaltung aus verbeulten Messingstreifen, die uns allen sehr gefällt. Man sage doch eigentlich,

 

Veränderungen könne nur der bemerken, der länger fort gewesen sei, „aber bei uns kann man zugucken.“

Als ich Nomeda und Gediminas Urbonas um eine Idee bitte, um Litauen in Leipzig zu präsentieren, erzählen sie mir vom Bernsteinhubschrauber: Früher wurde ein Traktor mit dem Namen Stalinez produziert, der so schwer war, dass man ihn auf den meisten Feldern nicht einsetzen konnte, wohl aber als Panzer im zweiten Weltkrieg. In den 50er Jahren wurde ein solcher Trecker als litauisches Geschenk für Stalin aus Bernstein nachgebaut. Nomeda und Gediminas haben eine Abbildung von einem Hubschrauber aus Bernstein. Sie vermuten, er sei für den Hubschrauberproduzenten Borisow gebaut worden, einen der reichsten Männer Litauens und eng verwickelt in den Skandal um den ehemaligen Präsidenten Paksas.

Basketball ist der wichtigste Sport in Litauen und der Sport, in dem litauische Mannschaften am erfolgreichsten sind. Gintaras schlägt mir vor, ein Trikot von Sabonis mitzunehmen. Sabonis ist der berühmteste aller Basketballer. Wenn sie in andere Länder reisten, sei Sabonis das erste, was ihren Gesprächspartnern einfiele, wenn sie sagten, dass sie aus Litauen kämen.

 

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Holz, Möbel, Forsten

   

Forstwirtschaft und Möbelindustrie sind neben Transportunternehmen, der Textilindustrie und einer Raffinerie die wichtigsten Arbeitgeber in Litauen. Außerdem ist das Land Gebrauchtwagenumschlagplatz für die gesamte ehemalige Sowjetunion.
 

 

Wir treffen Ewaldas Blaževicius im Restaurant einer schwedischen Pizzakette mit Namen chilipica am Morgen zum Kaffee. Er hat Forstwirtschaft studiert und ist Direktor einer Firma, die Toilettensitze für den gehobenen Bedarf fertigt: aus litauischer Eiche und Birke, aus indischem Teak und aus deutscher Buche.

In Litauen werde Aufforstung statt Landwirtschaft betrieben, sagt Ewaldas. Mit der Landwirtschaft ist schlecht
Geld verdienen. In Schweden, sagt er, sei es umgekehrt und der Staat fördere neuerdings die Abholzung, da für den Tourismus und die Jagd Freiflächen benötigt würden.
Das billige minderwertige Fichtenholz exportiere man und verkaufe es an die Kaliningrader und die schwedische Papierindustrie. Holzabfälle und Sägemehl würden zu Brennstoff, die guten Stämme aber im Land in der Möbel-industrie verarbeitet. 80% der litauischen Möbel würden für Ikea produziert, sagt Ewaldas. Sein Freund Gintaras sagt,

 

damit sei Litauen der siebtgrößte Produzent für Ikea weltweit. Die alten staatlichen Unternehmen mit ihren großen Kapazitäten seien nach der Wende lange ohne Arbeit gewesen, bis die Großaufträge von Ikea gekommen seien.
Wer Ikea-Möbel kaufen will, muss im übrigen bis Warschau fahren.
In ein paar Jahren schon wird die litauische Arbeitskraft zu teuer sein und Ikea anderswo produzieren lassen. In der Textilindustrie hat diese Entwicklung schon begonnen. Ewaldas hofft, dass sich bis dahin eine eigene qualifizierte Produktentwicklung und ein eigenes Marketing entwickelt haben.

Der derzeitige Mindestlohn im Land liegt bei 450 Litas oder 130 Euro. Qualifizierte Arbeiter bekommen 1200 Litas.
Einen direkten Vorteil bringe die Europäische Gemeinschaft mit sich, sagt Ewaldas: die Chancen der Zollbeamten auf Zuverdienst würden sinken.

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Der Litauer als deutscher Spion

   

Valentinas und ich sprechen über staatstragende Themen
 

   

„Regierungen haben überall einen schlechten Geschmack“, sagt Valentinas, als wir einen belorussischen Zehner mit einem litauischen Geldschein vergleichen und Farbe und Gestaltung für nahezu identisch befinden. Als Litauen begonnen habe, eigenes Geld zu drucken, habe man schnell eigene Staatssymbole erfinden müssen. Es gibt ein staatliches Büro, in dem jede öffentliche Ankündigung vorgezeigt werden soll, um sicher zu stellen, dass sie in litauischer Sprache erfolgt und die litauische Sprache korrekt geschrieben wird. Neulich habe man das Wort Video als unübersetztes fremdsprachliches Wort in einem Aushang des CAC beanstandet, und das habe er für übertrieben gehalten.

Ich erzähle Valentinas, dass ich in russischen und kasachischen Zügen im allgemeinen für eine Baltin gehalten worden sei.

 

Ich sähe wohl so aus wie sie, meint er, und der deutsche Akzent im Russischen ähnele vermutlich dem ihren. Im übrigen seien deutsche Soldaten und deutsche Spione in sowjetischen Filmproduktionen von litauischen Schauspielern gespielt worden.

Aus einem Film von Ewaldas Jansas lerne ich, dass am 16. März in Litauen der Tag der Buchschmuggler begangen wird. Diese Männer schmuggelten Bücher in litauischer Sprache, als sie verboten war. Der Film zeigt die Einweihung und Einsegnung einer Gedenktafel am Wohnhaus eines berühmten Buchschmugglers. Einer seiner Söhne ist geladen. Er ist ein alter Mann. Es regnet. Die Direktorin der örtlichen Bücherei lädt alle Versammelten ein, die Bücherei zu besuchen und sich über Bücher zum Thema beraten zu lassen.

 

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